Vor zwei Wochen zog Aslan hier ein, ein hellroter rauhaariger Galgo, etwa zwei bis drei Jahre alt. Er war als Angsthund beschrieben worden, als einer, der mindestens vier Meter Abstand zu allen Fremden braucht, um nicht panisch zu werden. Nachdem er nun ein Jahr auf seiner Pflegestelle hockte, ohne dass sich irgend etwas tat, dachte ich mir, ich könnte es mal mit ihm versuchen. Hier gibt es genügend Ruhe, Platz zum Ausweichen, Regeln und Abläufe, an die man sich leicht halten kann als Hund, kein Geschrei und wenig Streß.
Als wir uns trafen, versetzte ihn mein Anblick erst einmal in Angst und Schrecken. Er wich aus, duckte sich und wollte gar nicht zur Haustür heraus: Vor lauter Angst wirkte er viel kleiner als seine eigentlich stattlichen 72 cm Schulterhöhe. Ich sah ihn gar nicht an und nahm keinerlei Kontakt zu ihm auf, sondern marschierte in gebührendem Abstand auf dem Weg zum Auslauf halb neben, halb hinter ihm und seinem Pflegestellenfrauchen her. Er schien mich genauso grauenhaft zu finden wie den Verkehr, sicherte die ganze Zeit und sah sich dauernd nach mir um.
Im Auslauf durfte er von der Leine und rannte riesige Bögen über das Gras, behielt mich Fremdling aber immer im Auge. Irgendwann bat ich seine Pflegemutter, ihn an die Schleppleine zu legen, ließ mir das andere Ende der 15 – Meter- Leine geben und wanderte langsam über das Gelände, ohne dabei Aslan anzusehen. Ich überließ ihm die Entscheidung, mir zu folgen – was er auch tat (wobei er den möglichen Abstand der Leine voll nutzte 🙂 ).
Ich hockte mich hin und ging mit dem Finger über Maulwurfhügel, schob ein bisschen Erde hin und her und legte ein paar sehr besondere Hundeleckerchen auf die Stelle.
Dann stand ich auf und ging weiter, betrachtete konzentriert den Horizont und beobachtete nur aus dem Augenwinkel, wie Aslan vorsichtig zu der Stelle ging, jederzeit bereit zum Rückzug, die Kekse fand und verspeiste. Ich wiederholte das Spiel viele, viele Male, bis der Abstand von ihm zu mir immer kleiner wurde, weil er bemerkt hatte, dass ich absolut nichts von ihm wollte, keinerlei Erwartungen an ihn stellte und mich offenbar kein bisschen für ihn interessierte. Ganz beiläufig konnte er meinen Geruch kennen lernen, denn ich hatte immer schön mit den Fingern die Erde hin und hergeschoben und die Kekse eine Weile in der Hand gehalten, bevor ich sie auf die Erde gelegt hatte.
Das Ganze dauerte etwa anderthalb Stunden, dann begann es zu schütten, und ich wollte nach Hause.
Auf dem Rückweg zu meinem Auto lief Aslan, den ich jetzt an der Leine hielt, schon recht entspannt neben mir – nur ins Auto einsteigen wollte er nicht. Sein Pflegefrauchen hob ihn schließlich hinein und band seine Leine an einer Halterung fest (man weiß ja nie, ob man nicht plötzlich auf der Autobahn oder einer Tankstelle aus irgendwelchen Gründen die Klappe öffnen muss – und ich wollte Aslan schließlich heile nach Hause bringen), und wir fuhren los.
Das Geplänkel im Auslauf hatte ihn doch ziemlich erschöpft, so dass er ziemlich bald einschlief. Erst, als wir die ländlichen Kurvenstraßen in der Nähe unseres Zuhauses erreichten, übergab er sich im hohen Bogen.
Zuhause nahm ich ihn an eine drei Meter-Leine, wandte meine Schultern von ihm ab und ließ ihm Zeit, sich erst einmal zu orientieren. Er kannte die Geräusche ja nicht, die sich ihm hier von Weitem boten, die Kühe, Trecker, fremde Stimmen und Hundegebell. Er durfte das Tempo bestimmen, und so landeten wie nach einer Weile tatsächlich an meinem Gartenzaun, der ihm auch nicht ganz geheuer erschien, und dann begannen wir unseren Spaziergang an der Leine durch den Garten.
Meine Freundin Inga (Böhm, mit der zusammen ich „Leinen Los!“ geschrieben habe) ließ meine Hunde einen nach dem anderen dazu. Erst die Hunde, die sowieso alle willkommen heißen wie Pixel oder Barthl, und die Hunde, die dazu neigen, Fremde anzubellen, kamen an die Leine. Interessanterweise räumten ihm alle Hunde ausreichend Raum ein – sogar Jack, der als Labrador ja gewöhnlich erst das macht, was er für richtig hält, und dann nachfragt, ob es den anderen recht ist. Aber alle Hunde hatten nach Sekunden verstanden, dass er keinen Kontakt wünschte, und standen dann etwas ratlos im Garten herum, während wir weiter am Zaun entlang unsere Runden drehten, damit er gleich die Grenzen kennen lernte.
Irgendwann wurde uns kalt genug, dass wir uns ins Haus begaben. Dort hängten wir ihm eine Hausschleppe an (eine leichte, ca. 1,60 m lange Nyolonleine, damit man ihn ggfs. begrenzen kann, ohne nach ihm grapschen oder ihn am Halsband festhalten zu müssen). Wir zeigten ihm einmal das ganze Haus, dann machte ich für alle Tee und besprach ganz andere Dinge mit Inga und ihrer Schwester Meike (die die fabelhaften Fotos gemacht hat). Aslan ließ sich mit einem Seufzer in einem Hundebett in der Ecke der Küche nieder, und alle anderen Hunde beschlossen, dass von dem Typ wohl nichts zu erwarten sei, und verteilten sich im Haus.
Das Aller-, Allerwichtigste im Umgang mit ängstlichen Hunden ist es, sie möglichst nicht mit Aufmerksamkeit zu überfordern, sondern sie nur dann zu beachten, wenn sie es selber möchten – sie also von sich aus ankommen. Wenn sie hinterm Sofa sitzen möchten, dann sollen sie dort sitzen, wenn sie in einer Höhle (also einer ausreichend großen Box) Schutz suchen, dann muss man ihnen das zugestehen, bis sie sich sicherer fühlen. Es nützt nichts, sie stattdessen mit sanftem Druck auf das bequemere, gemütlichere Bett zu zwingen, und sie müssen auch noch nicht am Familienleben teilhaben – dazu haben sie ja noch ungefähr vierzehn Jahre Zeit, das muss nicht in den ersten paar Tagen – oder, in ganz harten Fällen, selbst Wochen – stattfinden. Wichtig ist, dass der Hund lernt, dass er hier in Sicherheit ist, dass ihm hier nichts passiert, dass keinerlei Erwartungen an ihn gestellt werden, und dass man ihn so nimmt, wie er ist (zunächst).
Aslan reagierte genau darauf sehr gut: Etwas später kam er von ganz alleine und wollte herausfinden, ob ich irgend ein Talent zum Streicheln oder gar Massage hätte.
Im Haus hatte ich Diffuser mit ätherischen Ölen aufgestellt, Lavendel und eine Mischung, die „Stress Away“ heißt und sich sehr bewährt hat. Ich habe einen iPod, auf den ich entspannende klassische Musik geladen habe (viel Schubert, Chopin und Elvis Presley – Hunde reagieren nach meiner Erfahrung sehr gut auf seine Stimmlage in den Balladen (und ich erst!)), der in Endlosschleife lief. Ich hatte Aslan eine Körperbandage nach Tellington umgelegt, was ihm sehr zu helfen schien. Im Wohnzimmer legte er sich vorsichtig neben mich auf den Boden beim Fernsehen.
Bis wir ins Bett gingen, waren wir alle so entspannt, dass wir praktisch bewegungsunfähig waren. Aslan hatte eine große Auswahl an weichen, nicht so weichen und festen Hundebetten, zog es aber vor, in einer großen Box am Ende des Flurs zu schlafen (in der natürlich auch ein weiches Kissen und eine Webpelzdecke liegen, das versteht sich ja von selbst).
Am nächsten Morgen fand ich ihn allerdings hier:
Nach zwei Tagen war er schon kaum wieder zu erkennen: Das Video zeigt ihn bei unserem allerersten Spaziergang und anschließend am zweiten Tag im Garten.
Irre, oder? Ich muss allerdings sagen: Ein „Angsthund“ ist Aslan nicht, „nur“ untersozialisiert. Er kennt nichts und fürchtet sich sehr vor Männern, ist aber ansonsten weder geräuschempfindlich, noch fürchtet er sich vor großen Maschinen wie Traktoren, Autos oder Mähdreschern. Er orientiert sich natürlich sehr stark an den anderen Hunden, und besonders Jack mit seiner töffeligen Selbstverständlichkeit, seiner unglaublichen Freundlichkeit und Souveränität hilft ihm gut. Er liebt sein Thundershirt und stellt sich gleich in Positur, wenn ich es in die Hand nehme, um es ihm anzuziehen.
Und mittlerweile wirkt er auch schon viel größer als zu Anfang :).