Der Chihuahua-Handel

Wie viel ist ein Leben wert, wenn der Nachschub endlos ist?

Die wegen Corona geschlossenen Grenzen waren noch nicht einmal richtig auf, da landeten schon wieder die ersten Hundewelpen in den Quarantäne-Stationen der in Grenznähe liegenden Tierheime. Während des Lockdowns hatte sich die Situation beruhigt – jedenfalls, was die Billigwelpen betraf. Stattdessen wunderten sich die „richtigen“ Züchter über den plötzlichen Ansturm von Leuten, die unbedingt jetzt und sofort einen Welpen erwerben wollten, koste es, was es wolle. Kaum war der Lockdown vorbei, ging es sofort wieder los. Am allerersten Tag der Grenzöffnung brachte die Polizei sechs winzige Chihuahua- und einen Französischen Bulldoggen-Welpen ins Tierheim Freilassing, direkt an der österreichischen Grenze. Sie kamen aus Ungarn, und weil sie noch so winzigklein waren, fehlte die Tollwutimpfung. Tollwut ist notwendig, um einen Hund über die Grenze transportieren zu dürfen, darf bei Welpen aber erst mit 12 Wochen gemacht werden. -Danach dauert es drei weitere Wochen, bis die Impfung „sitzt“ und sie die Grenze überqueren dürfen. Das ist schlecht fürs Geschäft, denn den Menschen, die Welpen zum Billigpreis kaufen, geht es nicht so sehr um Gesundheit oder gute, ausreichend lang dauernde Kinderstube, sondern um den Niedlichkeitsfaktor eines möglichst jungen Hundes. Macht ja auch mehr her, wenn man das Hundekind im Täschchen durch die Fußgängerzone trägt, kaum, dass es angekommen ist.

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Die Welpen reisten im Kofferraum; der Händler hatte gehofft, er würde nicht kontrolliert werden. Wurde er aber, und wegen der unzureichenden Impfungen wurden die Welpen beschlagnahmt und ins Tierheim gebracht. Die Welpen waren bis zum Rand voller Giardien, mit ihren neun Wochen winzig klein – bei „anständigen“ Züchtern werden Welpen mit so geringer Endgröße üblicherweise erst im Alter von 14 Wochen abgegeben – ,waren dehydriert, zu dünn und hatten Durchfall, der an „Wasser Marsch!“ – Kommandos erinnerte.

Ich weiß darüber deshalb so gut Bescheid, weil wir das Tierheim sofort mit Darmkuren und Welpenfutter unterstützten. Die Besitzerin der kleinen Französischen Bulldogge meldete sich umgehend – dann aber nie wieder, nachdem man ihr vorgerechnet hatte, was der Quarantäne-Aufenthalt samt Tierarztkosten und Medikamenten sie kosten würde. Der zuständige Amtsveterinär machte sich sogar die Mühe, die Dame nach Ende der Quarantäne anzurufen, um zu fragen, ob sie ihren Hund denn nun haben wolle. Nein, meinte sie empört, bei dem, was sie nun an das Tierheim zahlen müsste, hätte sie sich ja auch gleich einen Hund von einem deutschen Züchter kaufen können.

Achso.

Geiz ist eben nur geil, so lange nichts schief geht. Die Erfahrung zeigt dabei: Bei Lebewesen zahlt sich Geiz erstaunlicherweise nie aus.

Die Welpen erholten sich bald mithilfe der Moro’schen Karottensuppe und einer strengen Panacur-Kur.

Die wirklich kleine Französische Bulldogge wirkt wie ein Klops zwischen den winzigen Chihuahuas

Die kleine gescheckte Hündin, die von Anfang an etwas schwächelte, bekam eine lebensgefährliche Bauchfellentzündung, was dazu führte, dass die Tierheimleiterin sie mit nach Hause nehmen musste: weg von den wilden Geschwistern musste sie unter ständige Beobachtung gestellt werden. Mittlerweile hat auch sie sich erholt: Durch ständige Pflege, regelmäßigen Untersuchungen durch die Tierärztin, nächtlichem Aufsklobringen, Wärme und Ruhe – und permanentem Abschirmen vor den neugierigen Hunden der Tierheimleiterin. Acht Tage lang war das Leben des Winzels eine Zitterpartie. Würde man den Arbeitsaufwand zusammen rechnen, der notwendig war, um das kleine Ding zu retten, müsste man die kleine mit ungefähr 3500 Euro beziffern. Aber Geiz ist ja geil.

Man sollte nun meinen, dass die Vermittlung reinrassiger und tatsächlich besonders hübscher Chihuahua-Welpen ratzfatz geht, denn Geiz ist ja geil, und während ein Chihuahua mit Papieren zwischen 1300 – 2500 Euro kostet, sind Tierheimhunde ja geradezu Schnäppchen. Es bewarben sich auch zahllose Leute. Das Gute war, dass die erste Spontan-Flut durch die sechs Wochen dauernde Quarantäne gewissermassen eingebremst wurde. Aber selbst dann kamen die erstaunlichsten Anfragen: Leute, die jetzt „total viel Zeit“ hatten, weil sie „erst im Oktober anfangen würden zu studieren“ – nein, ihren Stundenplan würden sie natürlich noch nicht kennen, und wie dann die Betreuung des Hundes aussähe, wüßten sie auch noch nicht, aber bis dahin würde sich „bestimmt noch was ergeben“. Oder Leute mit sehr kleinen Wohnungen mit noch viel kleineren Kindern, die aber mit ihren ein- oder zwei Jahren „wahnsinnig tierlieb“ seien.

In der Zwischenzeit begann ich, mir die Anzeigen auf Ebay-Kleinanzeigen anzusehen. Ebay ist eine sensationelle Dokumentations-Quelle, wenn man sich darüber informieren möchte, welche Hunderassen richtig „in Not“ sind: Border Collies zum Beispiel findet man dort im Dutzend billiger ab einem Alter von acht, neun Monaten, genau so viele wie Border Collie-Deckrüden (ohne Papiere oder Gesundheitstests) und Border Collie Welpen (natürlich auch ohne Papiere. Häufig sogar ohne Impfungen, weil das ja „jedem selbst überlassen sein“ sollte).

Die Chihuahua-Anzeigen übertreffen allerdings alles, was ich je gesehen habe. Es werden so viele Hunde angeboten, dass man sie gar nicht mehr zählen kann, die meisten Anzeigen sind nach einem Tag nicht mehr aktiv, weil der Hund so schnell verkauft wurde (nie: vermittelt). Manchmal findet man denselben Welpen nach einer weiteren Woche wieder, etwas älter, vor anderer Deko bei anderen Besitzern, die plötzlich ebenfalls fest stellen, dass sie ja gar keine Zeit haben. Es gibt unendliche Anzeigen mit Chihuahua-Welpen oder deren Mixe, zu unfassbaren Preisen: EUR 1500 für Chihuahua-Mischlinge, deren Eltern (ohne irgendwelche Gesundheitsuntersuchungen) im gleichen haus leben und „wurferprobt“ sind, denn diese Verpaarung haben man schon dreimal gemacht, „die Welpen waren immer toll“.

Der Handel boomt. Welpen werden gekauft und nach ein oder zwei Wochen noch teurer weiter verkauft (man hatte ja in der Zwischenzeit Ausgaben), Chihuahuamischlinge ohne die geringste Angabe, wer denn die Eltern sind, werden nach einem Tag im neuen Zuhause weiter vertickt („Ich muss meinen acht Wochen alten Welpen abgeben, weil es im Salon mit ihm nicht klappt“ – wer gibt denn überhaupt so winzige Welpen im Alter von acht Wochen ab? Wer nimmt einen acht Wochen alten Welpen mit zur Arbeit? Sind diese Leute alle total bekloppt?), und offenbar wird keine Rasse so lässig bei einem Umzug abgegeben wie Chihuhahuas. Als wären sie Tamagotchis oder Monchichis. Womit die ursprünglichen Besitzer ganz sicher besser bedient gewesen wären.

„Nach jetzigem Stand“? Kann sich das bei Chihuahuas (wie bei Küken) noch als Irrtum herausstellen?

Man kann sich kaum entscheiden, ob man weinen, schreien oder sich übergeben soll, wenn man das liest. Dazu Fotos von Hündchen, die unbequem von Fingern mit zwei Zentimeter langen Fingernägeln gehalten werden, und Hinweise, die Welpen wären „stubenrein, also: gehen aufs Katzenklo“. Im Klartext heisst das, dass diese Welpen noch nie in ihrem ganzen Leben die Wohnung verlassen haben, in der sie geboren wurden, nichts Ungewöhnliches gehört oder gesehen haben und – wenn der neue Besitzer nicht zufälligerweise sehr hundeerfahren ist – mit Angst vor anderen Hunden, anderen Menschen, Verkehr und dem Leben überhaupt aufwachsen werden.

Wenn man aus der „normalen“ Hundeszene kommt, muss man sich wundern, was für Preise für Chihuahuas und ihre Mischlinge aufgerufen – und offenbar auch bezahlt – werden: Die Nachfrage scheint so gewaltig zu sein, dass „gebrauchte“ Chihuahuas nicht nur zum Welpenpreis, sondern sogar teurer (aufgrund der in den wenigen Wochen entstandenen Unkosten) verkauft (und gekauft) werden, und ihre Mischlinge für das, was üblicherweise ein Rauhaardackel mit Papieren aus einer exzellenten Zucht kostet. Und es wird gelogen, das sich die Balken biegen: Eindeutige Jack Russell – Chihuahua-Mischlinge werden als „reinrassig“ für EUR 950 angeboten – und finden offensichtlich Käufer, denn kurz darauf sind die Anzeigen deaktiviert. Wie sagte meine Nachbarin neulich? „Jeden Tag steht ein Dummer auf.“

Vielleicht ist es so, dass die winzigen Chihuahuas so beliebt sind, weil man aufgrund ihrer Körpergröße auf die Idee kommen könnte, sie „laufen eben so mit“. Das ist ein Irrtum. Chihuahuas sind durchaus richtige Hunde, extrem temperamentvoll (und durchaus sehr laut, wenn man das nicht rechtzeitig in den Griff bekommt), außerdem sehr selbstbewusst mit Hang zum Größenwahn. Sie haben nicht das geringste Gefühl für ihre Größe, was sie im Umgang mit anderen Hunden potentiell gefährdet, denn fremde junge Hunde wissen auch nicht, dass die Knochen von so kleinen Hunden leicht brechen. Dementsprechend haben Chihuahua-Halter zwei Möglichkeiten: Den Hund für immer von anderen, größeren Hunden fern halten – was den Chihuahua zwangsläufig zum Angstkläffer und damit noch gefährdeter macht -, oder ihn tapfer und unter ständiger Beobachtung an andere Hunde heranführen. Es nützt dabei nichts, ihn mit einem markigen „das regeln die schon alleine“ in Parks sich selbst zu überlassen, denn die allermeisten Hunde müssen erst einmal lernen, wie man mit so kleinen Artgenossen umgeht.

Klärchen mit ihrem Teenager-Babysitter Tilda

Die Leiterin des Tierschutzvereins Freilassing, Christine von Hake, die die Welpen von Anfang an betreute und bei der „Klärchen“, genannt „Wurschti“ aufgrund ihrer Bauchfellentzündung untergebracht war, kann ein Lied davon singen. Als langjährige Hundetrainerin ist ihr keine Hundegröße fremd, und trotzdem: „Mir war vorher nicht klar, dass Chihuahuas so wilde und anspruchsvolle Hunde sind“, erklärt sie. „Sie sind sehr schlau und arbeiten sehr lösungsorientiert: Wenn sie irgendwo hin wollen, dann schaffen sie das auch. „

Chihuahuas sind, entgegen der landläufigen Meinung keine Stofftiere oder Handtaschenhunde, sondern richtige (und sogar anstrengende) Hunde mit ganz normalen hündischen Bedürfnissen – nur eben in einem sehr kleinen Körper. Es ist aufgrund ihres Temperaments, ihrer Intelligenz und ihrer Reaktionsfähigkeit nicht einmal richtig, sie als „Anfängerhunde“ auszurufen – für Anfänger ist nur die Größe leicht, die es einfacher macht, den Hund unter den Arm zu klemmen, wenn man schnell über eine Kreuzung muss, oder den Hund in ein Restaurant mitzunehmen. Diese praktische Größe macht sie aber auch komplizierter als etwas stabilere Hunde: Nicht auszudenken, was passieren kann, wenn ein kleines Kind mit Windelpopo auf den Chihuahua fällt. Oder ihn ein bisschen zu doll lieb hat und zu fest drückt. Auch im Zusammenlaben mit anderen, größeren Hunden muss man sie ständig beobachten: „Chihuahuas akzeptieren keine Barrieren“, beschreibt Christine von Hake. „Die Kleine hüpft oder klettert über alle Absperrungen. Sie ist wahnsinnig schnell und man muss ständig darauf achten, dass sie sich ihre zarten kleinen Knochen nicht bricht, indem sie irgendwo herunterspringt. Auch bei den anderen haben wir gemerkt: Sie sind immer woanders, als man denkt, weshalb man sehr vorsichtig sein muss, wo man hin tritt: Dauernd hat man sie fast unter dem Schuh.“

Suchbild

Auch Stubenreinheit ist ein Thema, dass durchaus großer Aufmerksamkeit bedarf: Weil Chihuahuas so klein sind, ist ihre Blase entsprechend winzig und sehr schnell voll. Das macht es schwierig, Rituale aufzubauen, denn der Chihuahua muss zwar, wie jeder Welpe, nach dem Essen aufs Klo – aber bis man die Treppe hinauf und in der Wohnung angekommen ist, ist die Blase womöglich schon wieder voll. Weil sie so klein sind und so wenig Masse haben, frieren sie leicht – und wenn es kalt und feucht draußen ist, können Chihuahua-Welpen mit ihrem nackten Bauch draußen einfach nicht nieseln – also machen sie es erleichtert, wenn sie endlich wieder drinnen und im Warmen sind.

Der Chihuahua befindet sich unten links, der zweite Hund

Missverstehen Sie mich nicht: Chihuahuas sind fabelhafte Hunde. Aber sie sind richtige Hunde, und ihre Größe, die vermeintlich ihr Vorteil ist, bedeutet im täglichen Umgang mit ihnen eine extra Aufgabe.

Sie gehören nicht in Hände, die gar keinen Hund wollen, sondern „stattdessen“ einen Chihuahua. Sie haben es nicht verdient, angeschafft und abgeschafft, herumgereicht und nicht erzogen zu werden, als wären sie nicht echt.

Mehr dazu auch hier: https://www.lumpi4.de/chihuahuas-echte-hunde-modetrend-6902258/

und hier: https://www.lumpi4.de/die-chihuahua-schwemme/

1 Kommentare

  1. Vielen Dank für diesen tollen Artikel! Ich wünschte nur, dass die diese Leute die einen Chi kaufen, den vorher lesen würden. Das würde den Hunden ungemein helfen. Ich habe selbst einen angeblichen Chimischling (ich tippe aber eher auf Spitz und Dackel oder Basset) und kann nur sagen, kleine Hunde sind echte Hunde und wollen auch so behandelt werden und wenn man nicht viel raus will und sich beschäftigen kann und will und auch das mit den großen Hunden übt und notfalls auch eingreift (manche große Hunde halten kleine für Beute, ich kann ein Lied davon singen), dann sollte man sich lieber keinen Hund anschaffen, egal was für einen.

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