Die Sehnsucht nach dem Haustier

Ich kam schon mit der tiefen Sehnsucht nach Tieren auf die Welt. Meine Mutter erzählt, dass sie mich als Baby, das kaum aufrecht sitzen konnte, im Kinderwagen festschnallen musste, weil ich beim Anblick jedes Hundes versuchte, mich ihm um den Hals zu werfen, mit rudernden Ärmchen, als wolle ich mich in die Luft erheben, eine Art Hundekopter. Meine Mutter war fast sicher, man habe mich bei der Geburt vertauscht: Sie selbst konnte mit Tieren nichts anfangen. Sie kamen in ihrer Welt schlicht nicht vor. Aber im Zusammenleben mit mir, dem merkwürdig tierlieben Kind, das ständig Amseln, Hamster, Kaninchen und entlaufene Hunde anschleppte, gewann sie im Laufe ihres Lebens eine Dimension dazu: die Tierliebe.

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Foto: Meike Böhm

Ich bin sicher, man kann ohne Tiere leben – ich weiß nur nicht, wie. Ich bin diesbezüglich kein Einzelfall: Wir Tierfreunde sind viele, und es werden immer mehr. Die Sehnsucht nach Natur ist riesig. 22 Millionen Haustiere leben in deutschen Haushalten (Fische und Terrarientiere nicht mitgezählt, obwohl viele Menschen durchaus in der Lage sein sollen, enge emotionale Bindungen zu ihrer Boa Constrictor oder einem Koi-Fisch aufzubauen). Längst sind sie Teil der Familie, was nicht zu übersehen ist: Haustiere haben sich mittlerweile zur Elite-Gruppe der Tierwelt entwickelt. Sie liegen auf unseren Seidendecken auf dem Sofa, bestimmen, wann wir morgens aufstehen, wo und wie lange wir in die Ferien fahren, wen wir zum Abendessen einladen (Freunde mit Tierhaar-Allergie haben leider schlechte Karten) und wie wir unsere Wohnungen einrichten. Seit unsere Haustiere nicht mehr im Stall, sondern ganz nah bei uns leben, sollen ihre Schlafstätten zu unserem Interieur passen und ihre Halsbänder unseren Lifestyle spiegeln. Eine Studie der Universität Göttingen zum „Wirtschaftsfaktor Hund“ kam auf einen jährlichen Gesamtumsatz von fünf Milliarden Euro hierzulande. Weil wir unsere Tiere so lieben, als wären sie ein Teil von uns, sorgen wir gut für sie: Der Gesamtmarkt an Tiermedikamenten für Haustiere ist seit 2003 um 49 Prozent gewachsen – auf 736 Millionen Euro.

Sie bringen uns dazu, 15-Kilo- Säcke mit Katzen- oder Haustierstreu in den dritten Stock zu schleppen, und wir fühlen uns auch noch gut dabei (würde uns der Liebste bitten, das gleiche Gewicht an Bier- oder Sprudelflaschen hochzutragen, wären wir nicht sehr amüsiert). Sie legen sich in unser Bett, nagen Stromkabel durch oder Stuhlbeine an, sie machen aus unseren Lieblings-Pumps formlose Schlappen und stehlen uns buchstäblich die Butter vom Brot. Würde sich ein menschlicher Untermieter so benehmen, würden wir sofort die Polizei rufen. Aber unsere Haustiere akzeptieren und lieben wir mit allen ihren „Unzulänglichkeiten“, wie es uns gegenüber Freunden und Familie nur selten gelingt. Tiere können uns kaum enttäuschen, und wenn sie es doch einmal tun, schaffen wir es, schnell wieder darüber hinwegzusehen. Ich wollte immer lernen, wie meine Hunde lieben zu können: Mit voller Wucht und Hingabe und einem Blinden Fleck, was die Fehler des anderen betrifft. Immerhin habe ich, lange Zeit die ungeduldigste Person der Welt, durch meine Tiere eine große Gelassenheit erlernt, indem ich mir ihr Motto angeeignet habe: Es ist, wie es ist.

Näher werde ich dem Buddhismus wohl nicht kommen.

Der so genannte „psychosoziale Nutzen“ unserer Tiere ist unbezahlbar. Sie sind ein sensationelles Gegengewicht zum täglichen Leben, das von einem ungeheuren Arbeitstempo, Multitasking, Stress und Überforderung geprägt ist. Haustiere sind ein Anker, eine Art Natur-Oase in unserer zunehmend technologisierten Welt, weil ihre Bedürfnisse ganz klar, ganz simpel und buchstäblich erdverbunden sind. Zu seinem Haustier kann man nicht einfach sagen: „Schatz, ich komme heute später“, weil es nämlich aufs Klo und gefüttert werden muss. Es verlangt, dass wir mit ihm Unsinn machen und uns mal kurz von unseren Alltagssorgen trennen, um uns ganz auf das Tier zu konzentrieren. Tiere sind wie Meditation, nur weicher, weniger ego-bezogen und sorgen außerdem für launenverbessernde Oxytocin-Ausstöße.

Zahllose Studien haben längst bewiesen, dass Tiere durch ihre bloße Anwesenheit Stress reduzieren, schon beim bloßen Streicheln den Blutdruck senken, sie bringen Schlafmützen und Couch-Potatoes in Bewegung, verhelfen Kindern zu mehr Selbstvertrauen (mit einem Hund im Bett haben Monster unterm Bett keine Chance), leisten alten Menschen Gesellschaft und sind ein soziales Schmiermittel. Gehen Sie mal mit einem besonders niedlichen Hund auf die Straße: So beliebt waren Sie noch nie! Seit Jahren bekommen meine Hunde am Postschalter Putenbrust und/oder Bio-Salami kredenzt. Ich dagegen habe dort noch nie etwas bekommen außer selbstgekaufte Briefmarken oder hinterlegte Einschreiben, auf die ich gerne verzichtet hätte. Mit einem Hund bekommt man ein Gefühl dafür, wie es ist, mit einem Prominenten verheiratet zu sein oder in einem Dorf zu wohnen: Man wird erbarmungslos ansprechbar und kennt in kürzester Zeit jeden in der Umgebung – und das ist geradezu ein Wunder in diesen anonymen Zeiten.

Das genau deshalb Hunde weltweit zu den beliebtesten Haustieren gehören, ist dabei gar kein Wunder: sie sind uns Menschen und unseren sozialen Bedürfnissen so ähnlich. Ich persönlich halte manche meiner Hunde für mein Besseres Selbst. So geht es den meisten Menschen: Sie sehen sich in ihrem Haustier wieder gespiegelt, weshalb Katzenfreunde sich immer gerne als freiheitsliebend, unabhängig und unbestechlich betrachten, während man Hunden alle Eigenschaften angezüchtet hat, die Menschen selber gerne hätten: Treue, Verlässlichkeit, Loyalität und diesen unübertroffenen Geruchssinn (stellen Sie sich vor, Sie könnten riechen, ob jemand Sie mag!). „Zeige mir dein Tier, und ich sage dir, wer du bist“ kann dabei zur bitteren Wahrheit werden, oder zur Chance, sich mit vereinten Kräften zum besseren Menschen zu entwickeln: Wer selber angespannt aggressiv oder gestresst ist, dessen Haustier übernimmt diese Eigenschaften. Wer offen, großzügig und gelassen ist, der hat auch meistens Haustiere, die offen, kommunikativ und neugierig sind (was aber nicht heißt, dass schweigsame, verschlossene Menschen grundsätzlich einen Hang zum Aqua- oder Terrarium haben). Unsere Tiere sind unser Schlüssel zu einer ganz anderen Welt, einer Kommunikation ohne Worte, einer Welt, die aus faszinierenden Details besteht, die wir ansonsten meist übersehen. Sie zwingen uns in die Natur, und sie bringen uns bei, wirklich im Augenblick zu verharren und nicht immer über das Gestern nachzugrübeln oder das Morgen zu planen.

Unsere Welt aus Mode, Wissenschaft, Bits und Bytes kann viel, aber eines kann sie sicher nicht: Das Gefühl ersetzen, das man bekommt, wenn der Hund oder die Katze, Zwerghase, Wellensittich oder das Meerschweinchen sich wie verrückt freuen, wenn man wieder nach Hause kommt: „Na endlich“, scheinen sie zu sagen, „die Welt ist wieder in Ordnung: Du bist da.“

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