Nr. 6/2009
Wer einen Hund hat, lebt mit mindestens zwanzig Millionen Hundefachleuten zusammen, und schlittert wider Willen von einer selbsternannten Jury zur nächsten.
Hundebesitzer glauben sich stets von Hundefeinden umzingelt, aber viel mühsamer sind die Leute, die sich auf offener Straße im Vorbeigehen als Hundeexperte outen. Man kann jahrelang unbeschadet mit seinen Fiffis zusammen leben; man trifft immer wieder Hundefreunde, die man zwar noch nie gesehen hat, die nichts über den Hund oder das Leben des anderen wissen und womöglich selbst gar kein Haustier haben, aber genau beurteilen wollen, was mein Hund braucht.
Als meine braune Pudelin Ida ein Welpe war und das Gehen an der Leine lernen sollte, stemmte sie bei dem geringsten Zupfen am Halsband die Pfoten in den Asphalt und weigerte sich, auch nur einen Zentimeter vorwärts zu gehen, solange sie eine Leine am Halsband spürte. Ich zupfte. Ich lockte. Ich zog. Ida wehrte sich wie ein bockiges Fohlen, hopste herum und jammerte. Die Nachbarn riefen Sie tun dem kleinen Hund ja weh!“ aus dem Fenster. Das tat ich natürlich nicht. Ida übte einfach nur ihre schon damals offensichtliche Bestimmung: Ein Leben auf der Bühne des Lebens. Die Menschen auf der Straße blieben stehen und tuschelten. Ein fremder Herr mit der Aura eines Tigerbändigers meinte gönnerhaft, er würde mir mal zeigen, wie das ginge. Er stapfte drauflos, Ida stieg, röchelte und galoppierte rückwärts. Sie will einfach nicht an der Leine gehen“, sagte der Tigerbändiger, als hätten wir das Problem gerade erst entdeckt. Für Männer ist ein Problem zumeist erst dann real existent, wenn sie die Erfahrung selbst machen können. Als er mir die Leine zurückgab, betrachtete er Ida, als habe sie einen Konstruktionsfehler.
Mein furchtsames Italienisches Windspiel Harry, das gewöhnlich fußfesselartig nicht von meinen Fersen weicht, beschloss eines frühen Morgens, mir zu beweisen, dass er nun seine allerschlimmsten Grundängste bewältigt habe, indem er ohne Vorwarnung einen Lastwagen der städtischen Gärtner verfolgte und mit ohrenbetäubendem Gekläff umkreiste. Ich pfiff, Harry kehrte sofort zurück, und ich äußerte meinen beachtlichen Schrecken, indem ich ihn anschnauzte: Bist du wahnsinnig geworden? Was machst du denn da, um Himmels Willen? Was soll das?“ Harry sah sehr zufrieden mit sich aus.
Ganz anders als eine ältere, hundelose Dame, mir völlig unbekannt, die mich schäumend vor Wut anschrie:“ Das ist ja unglaublich! Was das sollte? Sie habe ja ü-ber-haupt keine Ahnung! Ihr Hund hat Ihnen gerade bewiesen, dass er der Rudelführer sind, nicht Sie! Der macht, was er will! Sie wissen ja gar nichts! Lesen Sie mal ein Hundebuch, dann werden Sie vielleicht irgendwann mit Ihrem Hund fertig!“
Ich war zu baff über diesen Eimer giftgrüner Feindlichkeit, der sich über mich ergoß, um sie darauf hinzuweisen, dass meine Frage an Harry rein rethorisch gemeint war.
Wer hierzulande einen Hund hält, lebt mit mindestens zwanzig Millionen Hundeexperten zusammen. Ungefragt erteilen sie mitten auf der Kreuzung Ratschläge und befeuern einen gnadenlos mit ihrem Reserve-Wissen, das sie sich irgendwann mal in irgendeiner Tier-Sendung oder aus einem vierzehn-Zeilen-Beitrag in einem Apothekerblatt zusammengereimt haben.
Es gibt natürlich auch noch die anderen Experten, solche, die echte Hundeleute sind. Die nehmen Hunde ernst, und zwar: Todernst. Sie wissen alles, über jedes Hundefutter, jeden neuen Trend, jedes pädagogisch-wertvolle Hundespielzeug, jede neue Ausbildungsmethode und auch jede alte, sie kennen alle neuesten Hilfsmittel, kein Thema, zu dem sie sich nicht längst eine Meinung gebildet haben. Vor allem: Sie wissen es viel besser, als die anderen. Sie wissen so viel, dass einem im Gespräch mit ihnen leicht der Humor vergehen kann: Wie ein endloser Schwall ergießt sich das, was der Experte gerade kürzlich gelesen und gelernt hat über sein Gegenüber. Wenn jemand erwähnt, dass er Hundefutter aus dem Supermarkt füttert, wird er Experte bleich und murmelt tonlos: Supermarktfutter? Wissen Sie denn nicht, was für ein Dreck darin enthalten ist?“ – und rezitiert anschließend nicht nur die kompletten Inhaltsstoffe des jeweiligen Futters, sondern versucht sein Möglichstes, den Unwissenden davon zu überzeugen, dass er das Futter wechseln soll und zwar jetzt und SOFORT, wenn nötig, begleitet er ihn persönlich zum nächsten Fachhandel. Sie lassen eine andere Meinung nicht zu, und es macht auch überhaupt nichts, dass der Andere sich vielleicht durchaus etwas bei dem gedacht hat, was er da tut, denn: Der Weg des Experten ist auf jeden Fall der Bessere.
Natürlich meinen diese Experten es nicht Böse. Sie wissen meist tatsächlich eine Menge, wenn auch Vieles davon eher angelesen ist, als tatsächlich erlebt oder erfahren. Sie lernen alles, was sie können, weil sie das Leben für ihren Hund so perfekt wie möglich gestalten wollen – und sie teilen dieses Wissen gerne. Sie sind Informations-Bulimiker. Sie verstehen gar nicht, warum die Leute im Park häufig plötzlich in die andere Richtung gehen, wenn sie auftauchen, oder warum ihr Tierarzt aussieht, als würde er sich gleich aufhängen, wenn sie mit ihm noch einmal die Symptome ihres Hundes erörtern wollen – auch wenn er überzeugt ist, der Hund sei kerngesund (immerhin haben sie viele, viele Stunden im Internet recherchiert und auch eine Meinung zu den Dingen).
Ich habe inzwischen gelernt, solche Leute als meine persönliche Zen-Aufgabe zu betrachten: Ich werde ihnen nicht beibringen, ihre Meinung für sich zu behalten, also muss ich lernen, ihre Meinung nicht an mich heranzulassen. Wenn es gar nicht anders geht, treibe ich sie den Neuankömmlingen im Park in die Arme, die nichtsahnend mit ihrem neuen kleinen Hündchen auf die Wiese kommen und beobachte mit höchstens minimaler Schadenfreude, wie der Experte auf den Neuhund zusteuert wie ein Weisser Hai auf ein Seehundbaby. Wenn ich dann aus einiger Entfernung höre: Sie sollten für den Welpen lieber ein Geschirr statt einem Halsband verwenden!“, kann ich mich wieder ganz entspannt meiner Ignoranz und völligem Unverstand hingeben.