Tage des Grauens

Es läuft auch hier nicht immer alles glatt und easy. Meine Hunde sind genauso frech, unwillig, schlecht gelaunt oder nicht zu begreifen, wie alle anderen Hunde auch. Mir macht das vielleicht weniger aus als manchem Anderen (obwohl ich an manchen Tagen sekundenlang darüber nachdenke, sie allesamt an einer Raststätte anzubinden und schnell wegzufahren, aber das träume ich auch manchmal bei dem Mann in meinem Leben), ich kann nach gefühlten 200 Jahren der Hundehaltung Ausnahmezustände vielleicht besser lesen und aushalten als Andere.

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Und manchmal auch nicht.

Am vergangenen Dienstag verschwand Rapunzel.
Dazu muss ich sagen: Rapunzel ist ein typischer Barsoi: Gerne für sich alleine und gleichzeitig möglichst im Mittelpunkt, ausgesprochen unabhängig und nicht immer wahnsinnig kooperativ, um es einmal liebevoll auszudrücken. Und sie kann eine unglaubliche Zicke sein, wenn sie etwas nicht will, was andere wollen.
Rapunzel neigt dazu, bei Spaziergängen einen gewaltigen Radius um uns herum zu laufen. Das Gute ist, dass sie an der Jagd nicht interessiert ist und hier verkehrstechnisch nichts los ist, aber trotzdem bestehe ich darauf, dass meine Hunde abrufbar sind. Rapunzel findet Gehorsam überbewertet, sie kommt ja schließlich immer wieder zurück. Das ist dennoch nicht meine Auffassung von entspannten Spaziergängen, also übe ich mit ihr, immer und immer wieder. Am vergangenen Dienstag an einer 15 – Meter – Schleppleine das schöne Wort „Warten“. Grundsätzlich bin ich gegen Schleppleinen bei großen Windhunden, weil man sie schlicht nicht halten kann, wenn der Windhund durchstartet, und ich gleichzeitig so viele, viele Tage in meinem Leben damit verbracht habe, Hunde von Jägern und anderen zu suchen, die sich mit der Schleppleine irgendwo verheddert hatten und schlicht gefangen waren. Aber manche Kommandos kann man eben nicht anders üben: Rapunzel gehorcht, wie viele Hunde, in einem Radius von fünf bis acht Metern sehr gut – aber wenn der Abstand zu mir größer wird, schließen sich proportional ihre Ohren.
Der Spaziergang an der Leine war wunderbar ruhig, ich hatte nur drei Hunde dabei – Rapunzel, Henry und Ludwig, einen acht Monate alten Kurzhaar-Collie. Kein Adrenalin, keinerlei Aufregung, Rapunzel schob zwischendurch immer wieder freundlich ihren Kopf in meine Hand.

Wir waren zweihundert Meter von Zuhause entfernt, als Henry plötzlich durchstartete, nach rechts über den Acker Richtung Waldrand. Rapunzel schoß reflexhaft hinterher, ich trat auf die Schleppleine – die unter meinen nassen Gummistiefeln durchrutschte. Ludwig und ich standen wie vom Donner gerührt da, ich pfiff und rief – und nach kurzer Zeit kam Henry zurück. Rapunzel nicht. Rapunzel macht gerne Spaziergänge alleine, und abgesehen davon, dass ich das nicht erlaube und erst recht nicht gutheißen kann, weiß ich aber, dass sie immer zurück kommt. Sie kennt sich hier aus. Gewöhnlich macht sie eine riesige Runde und besucht alle Hofhunde im Umkreis von neun Kilometern, aber sie geht nicht verloren.

Aber sie hatte auch noch nie eine 15m Schleppleine am Geschirr.

Rapunzel kam den ganzen Tag nicht zurück. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch auch nicht. Ich war am frühen Abend mit den Nachbarjungs Rapunzels übliche Sehenswürdigkeiten abgelaufen und -gefahren, an denen sie sich gerne aufhielt: Nichts. Mir wurde schlecht vor Angst, wenn ich an die Schleppleine dachte. Wir sahen unendliche Paare von Augen (ich kenne jetzt die Schlafplätze sämtlicher Rehe im Umkreis und habe eine erstaunilche Menge Katzen kennengelernt), aber Rapunzels waren nicht dabei.

Auch am nächsten Vormittag tauchte sie nicht auf. Sie war nirgends, niemand hatte sie gesehen (und ein so großer, ungewöhnlicher, schneeweißer Hund fällt hier auf). Ich war mir vollkommen sicher, dass sie sich irgendwo mit der Schleppleine festgehängt hatte, sonst wäre sie längst wieder da. Ich verständigte die Pet-Trailer des K9-Suchhundezentrums , die deutschlandweit, in der Schweiz und in Österreich Suchhundeeinsätze durchführen. Es ist nämlich so: Normale Man-Trailer suchen nach Menschen, nicht nach Hunden. Die würden bei dem Geruch von Rapunzel zu mir laufen, denn dafür sind sie ausgebildet (und Herr und Hunde riechen tatsächlich sehr ähnlich, ob man will oder nicht). Ich wurde sehr schnell von einer offenbar psychologisch geschulten Frau zurückgerufen, mir wurden die Kosten erklärt (Euro 150,00), und  schließlich kam gegen halb neun ein 2er Team mit einem griechischen Mischling, der zuerst suchte, und einem schwarzen Labrador. Bis dahin war es natürlich stockfinster und auch noch so nebelig, dass man eigentlich nur fünf Meter weit gucken konnte. Die Hundeführer der K9-Gruppe machen diese Einsätze ehrenamtlich, müssen also tagsüber arbeiten und können nicht nach anderer Leute Hunde suchen.
Beide Hunde aren sehr erfahren und bekamen von mir Mullbinden in einem sterilen Glas gezeigt, die ich vorher an Rapunzels Halsband und Lieblingsschlafplatz abgerieben hatte. Die Spuren, die sie verfolgten, machten auch Sinn – nur gaben sie an irgendeinem Punkt auf, als die beiden Hundeführerinnen wie zwei Hobbits in Brombeerdornen hockten und weder vor-, noch zurück konnten.

Die Strecke, die die Hunde jeweils eingekreist hatten, wurde mir als Trekking-Route gezeigt, damit ich am nächsten Tag beiLicht nachsuchen konnte. Was ich auch tat, unterstützt von Nano und Barthl, die ihre Sache sehr ernst nahmen – sie aber trotzdem nicht finden konnten. Die K9- Ansprechperson erkundigte sich, ob ich den Hund mittlerweile gefunden hätte, und als ich verneinen musste, wurden abends zwei neue Hunde losgeschickt, ein Weißer Schäferhund und eine ältere Viszla-Dame, die mit einem solchen Tempo über die Äcker raste, dass wir kaum hinterher kamen (zumal ich blöderweise auch noch Gummistiefel trug. Schon mal mit Gummistiefeln gejoggt? Danach kennt man jeden Muskel im Hintern).Sie führte uns durch tiefstes Unterholz, Abgründe hinunter und über sumpfiges Gelände – keine Rapunzel. Um kur vor zwölf brachen wir ab, weil wir so erschöpft waren.

Ich schaffte es gerade noch ins Bett, da klingelte mein Telefon. Seppi, mein 20jähriger Nachbar rief an, er stünde am offenen Fenster und höre Hunde bellen und jaulen aus dem Wald gegenüber. HundE waren ja schon mal falsch, dachte ich todmüde, und ich hatte Rapunzel noch nie bellen oder heulen gehört. Und dan gab ich mir doch einen Ruck, zog Jogginghose und Pullover über meinen Schlafanzug und fuhr mit Seppi los, in den Wald gegenüber.

Wir parkten am Eingang des Waldes und horchten: Nichts. Kein Ton. Nicht einmal Geraschel im Unterholz. Dann hörten wir einen seltsamen Ton, der eher nach einer betrunkenen Eule klang – jedenfalls nicht wie ein Hund -, weit weg und ziemlich leise. „Das war kein Hund“, sagte ich. Seppi fand das auch, auch wenn wir uns nicht erklären konnten, was es sonst sein könnte. Dann hörten wir es wieder – und ich pfiff meinen üblichen „Hierher!“-Pfiff. Das Geräusch kam wieder, jetzt deutlicher. Ich rief, und bekam eine Antwort. Rapunzel!
Wir fuhren ein Stück weiter, ich rief Rapunzels Namen und pfiff, sie antwortete. Wir liefen weiter und schlugen uns an irgendeiner Stelle ins Unterholz – und Seppi sagte: „Da ist was Weisses!“ – Ich sah nur weisses, altes Holz, da sagte er: „Ich sehe Augen!“ (schon wieder Augen, dachte ich), und dan: „Schau‘ mal, wer da sitzt!“

Da saß Rapunzel. Sie hatte sich mit der Schleppleine so unglaublich verheddert, dass ich sie nicht einmal mit den Fingern lösen konnte. Sie schien sich nicht besonders zu freuen, mich zu sehen -aber dafür war sie wohl zu erschöpft. Sie zitterte ein bisschen – es war in den letzten beiden Nächten nach dem Nebel richtig kalt geworden -, wir brachten sie ins Auto und fuhren nach Hause.

Die Schleppleine liess ich im Wald.

Rapunzel hatte fürchterlichen Hunger und Durst, erbrach alles und frass es dann wieder, und schlief sofort ein. Am nächsten Tag hatte sie ein bisschen Temperatur, die aber am Ende des Freitags wieder verschwunden war. Freitagnachmittag versuchte sie, ein bisschen mit ihren Collies zu spielen, merkte dann aber, dass sie zu müde war. Und jetzt ist sie wieder ganz die Alte.

Seppi dagegen ist mein Held.

 

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8 Kommentare

  1. Christine Lönnecke

    Oh Gott, wie SCHRECKLICH!! Horror pur! Mein absoluter Alptraum, ich wäre vor Sorge und Verzweiflung gestorben! Gott sei Dank ist sie wieder da!!

  2. Oh mein Gott, ich wäre abgedreht, was für ein Alptraum. Hab auch so einen bis 8 m gut abrufbaren Pudel, der die Nase nur am Boden hat und immer Sorge beim Freilauf. Arme Rapunzel und gleichzeitig so ein Glückspilz dank Seppi.

  3. P. Leppelt

    In unserer Gegend verbrachte eine Hündin vor einem Jahr auch drei Nächte um einen Baum gewickelt. Ich hatte zweimal Glück. Einmal kam mein „Jäger“ nach eineinhalb Stunden mit Wildschweinblessuren zurück, die Schleppleine im Schlepp. Das war schon kaum zu ertragen. Ich fühle mit Dir. Gut, dass Du sie wieder hast. Und gut, dass es diese Suchhunde gibt, auch wenn sie diesmal keinen Erfolgt hatten. Ein Hoch auf Sepp!
    Liebe Grüße
    Petra

  4. Kerstin Holler

    Ein Alptraum… ich habe auch so eine Kandidatin mit einem großen Radius zu mir im Freilauf, läuft sonst auch an der Schleppleine und bisher noch nicht hängengeblieben. Ich weiss aber auch, dass meine H(o)undini-Funny aus jedem ihrer Geschirre aussteigen kann ( wie auch immer )… Ich nehme mal an das diese Aktion einige graue Haare mehr gefördert hat ! Und vermutlich keinerlei Lerneffekt für Rapunzel ….. ! Aber toller Sepp !!!

  5. Connie Gaudian

    Das ist ja furchtbar! Die Sorgen, die man sich macht und was man sich so ausmalt … Mein Bordercollie hat mich ihn mal 2 Stunden suchen lassen auf unserem Grundstück. Ich konnte mir nicht erklären, wo er war. Habe gerufen, gelockt. gepfiffen – nichts. Wir haben mit Taschenlampen alle Kuhlen und Verschläge abgesucht und als wir ihn nicht fanden, von vorne angefangen. Ich habe in Teiche geleuchtet in Abwassergruben – nichts. Unter Tränen rannte ich in den Schuppen, um etwas zu holen und wäre fast über ihn geflogen, da saß er dann hinter der Tür – kein Ton stundenlang nichts. Etwas verständnislos hat er uns angeschaut …

  6. Ohje, was für ein Horror. Zum Glück ist das gut ausgegangen. Schade das die Suchhunde keinen Erfolg hatten, denke das ist auch für diese frustrierend und für dich erst recht.
    Aber zum Glück gibts scheinbar gute Nachbarn
    lg Becki

  7. Oh je, so was kenne ich. Zum Glück waren es bei mir nur einige Stunden und nicht Tage. Meine Schäferhündin hielt sich Zeit ihres Lebens für einen verhinderten Jagdhund und versuchte das dann aus zu gleichen in dem sie alles jagte was 4 Beine hatte und schneller lief als sie. Der pure Alptraum als sie weg war und nicht mehr zurück kam. Ich will gar nicht daran denken wie schlimm das ist wenn der Hund mehrere Tage weg ist. Meine Collies(Falko und jetzt Sammy) hatten nie irgendwelche jagdlichen Ambitionen. Das ist mega entspannend. Ich kann Wild gucken ohne das Hundi sich dafür interessiert und sogar Katzen streicheln.

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