Als ich zehn war, war Weihnachten noch voller Überraschungen, die wir Kinder ständig aufzuspüren versuchten: Kein Schrank war vor uns sicher, kein Regal hoch genug, wir schleppten ständig Leitern und Stühle durch die Gegend. Eine gute Methode, wenigstens mich loszuwerden war es, mich mit den diversen Familienhunden loszuschicken: Hundespaziergänge waren schon als Kind meine Leidenschaft. Mein Cousin besaß einen Irischen Setter namens Viktor, um den ich ihn glühend beneidete. Viktor war weder treu noch klug, nur edel, schön und lieb. Mein Cousin, der zwar um den Hund gebettelt hatte, ging allerdings kaum je einen Schritt mit ihm spazieren. Stattdessen waren es seine Eltern, die, ob’s regnete, stürmte oder schneite, bis zur Erschöpfung mit Viktor durch die Straßen wanderten.
Viktors Familie feierte bei uns Weihnachten, und sie brachten den hinreißend schönen Hund mit. Ich wurde mit ihm und der wiederholten Ermahnung losgeschickt, ihn nicht von der Leine zu lassen – tat man das, war er im Nu wie weggezaubert.
Ich hatte noch eineinhalb Stunden bis zum wichtigsten Termin des Jahres: der Bescherung, und ging mit Viktor in den Botanischen Garten. Es war mehr als hundekalt, minus zwanzig Grad, kein Mensch war auf den verschlungenen, verschneiten Wegen, und es gab nur ein enges Türchen als Schlupfloch – da konnte ich doch den vor Kälte schlotternden Hund von der Leine lassen, damit er sich warm laufen könne. Rings herum waren drei Meter hohe, lückenlose Zäune, da konnte Viktor kaum entkommen.
Kaum hatte ich die Leine gelöst, schoss Viktor wie der sprichwörtliche Pfeil davon, aber ich war unbesorgt, das kann ich von unseren Hunden, die immer an der nächsten Wegbiegung wieder auftauchten.
Nicht so Viktor. Die Zeit verging, ich raste trotz grimmiger Kälte schweißgebadet durch den Park, nirgends war das zum Mistvieh herabgewürdigte edle Tier zu sehen. Ich bemühte mich vergeblich als Spurensucher, die wenigen verwehten Spuren verloren sich. Ich rief, erst wütend, dann verzweifelt: Ich musste doch längst zu Hause sein! Aber ich konnte den Hund doch nicht seinem Schicksal überlassen, er würde doch erfrieren. Schweren Herzens brach ich kurz vor sieben – Bescherungszeit! – die Suche ab, um meine Familie zu holen und eine Treibjagd auf Viktor zu veranstalten, so lautete mein Plan.
Zu Hause fragte mich meine Familie vorwurfsvoll, wo ich denn so lange bliebe: Viktor sei schon seit anderthalb Stunden zu Hause. Ihm war offenbar so kalt gewesen, dass er schnurstracks wieder nach Hause gelaufen war.
Nie war mir wärmer ums Herz, nie leuchteten die Kerzen so hell, nie war Heiligabend schöner.
Ich wünsche Ihnen ein wundervolles, friedliches, warmes Weihnachtsfest und brave Hunde, die sich mit ihrem eigenen Weihnachtsessen begügen –
sehr herzlich, Ihre Katharina von der Leyen